Lasst uns über die Baustellen im Bildungswesen sprechen
Im Bildungsbereich gibt es jede Menge Baustellen. Manche sind offensichtlich (z.B. LehrerInnenmangel), manche betreffen nur einen Teil (z.B. Diskriminierung Benachteiligter), manche werden nicht gerne thematisiert (Mobbing) und manche kaum gesehen. Z.B. die Problematik der Übergänge. Was sind das für Baustellen? Wer nimmt sich dieser an? Wie könnte man diese Baustellen bearbeiten und einer Besserung zuführen?: Teil 2: Ziffernnoten
Dass es um die Aussagekraft von Ziffernnoten im Schulwesen im Allgemeinen nicht besonders gutsteht und welche Spuren sie bei den Betroffenen hinterlassen (mangelndes Selbstwertgefühl, Überheblichkeit, Angstzustände, Neid, Unehrlichkeit, falsche Lernmotivation und, und, und…) ist hinlänglich bekannt und erwiesen. Dass es sie dennoch gibt, ist allein der konservativen Einstellung zu verdanken, man brauche sie, um Kinder und Jugendliche in vermeintliche Leistungskästchen einzuteilen und sie dementsprechend zu selektionieren (Gymnasium oder Mittelschule; Aufsteigen oder nicht), sowie bei manch LehrerInnen als Druckmittel, um unliebsame SchülerInnen zu bestrafen und weil sich manche Eltern dadurch einen Vorteil erwarten.
Das dahinterstehende Bild: Wenn du („vermeintlich“) klug und fleißig bist, stehen dir alle Wege offen, wenn du („vermeintlich“) dumm und faul bist, dann solltest du dich mehr anstrengen.
Ganz perfide ist dieses System im Volksschulalter, da sie bereits bei Kindern massiv in deren Biographien eingreifen und sich auf ihr noch zartes psychisches und physisches Befinden auswirken.
Was dabei übersehen wird:
- Der Mensch ist mehr als sein Wissen. Die Selektion erfolgt nach der 4. Klasse Volksschule aber hauptsächlich über die Mathematik- und Deutschkenntnisse eines Kindes. Das ist sehr kurzsichtig gedacht, unsere Welt benötigt in allen Bereichen gut ausgebildete Menschen.
- Über 9- und 10-Jährige bereits ein Urteil zu fällen, ist aus entwicklungspsychologischer Sicht äußerst dumm, manche Kinder benötigen mehr Zeit, um ihre Potentiale zu entfalten.
- Da die schulischen Leistungen in der Volksschule unter anderem vornehmlich davon abhängen, wie viel Zeit/Geld/Verständnis… die Eltern in das Fortkommen ihres Kindes zur Verfügung steht, sind die Noten stark davon abhängig. Dadurch erwächst ein Bildungsvorteil, der ohnehin schon Benachteiligte zusätzlich benachteiligt. Volksschulkinder sind noch nicht so selbständig, sie sind auf die schulische Hilfe der Eltern angewiesen. Können Eltern diese nicht im ausreichenden Maße aus verschiedensten Gründen leisten, haben sie einen enormen Nachteil.
- Jeder Mensch hat das Recht, ohne von den anderen dauernd bewertet zu werden und selbstbestimmt durch sein Leben zu gehen. Das Recht auf ein Miteinander und voneinander lernen zu dürfen darf durch Ziffernnoten nicht beschränkt werden, indem man Kinder, die eine Behinderung/keine Behinderung haben, nicht so gut Deutsch/sehr gut Deutsch sprechen und, und, und… trennt.
Die Liste ist bei Weitem nicht vollständig, man könnte jede Menge Bücher damit füllen. Solange Ziffernnoten aber dazu dienen, Kinder bereits nach vier Jahren Schulerfahrungen zu selektionieren, nützen alle Studien, Bücher, Expertisen… nichts. Es geht gar nicht um die Kinder, sondern um etwas ganz anderes. Durch die Ziffernnoten lässt sich das System aufrechterhalten, kann man die SchülerInnen nach ihrer Herkunft trennen, lassen sich Vorteile für die bürgerlich-konservativen Kreise generieren… Ein diskriminierendes System unter dem Deckmantel: Du bist aufgrund deiner Noten besser im Gymnasium und du bist aufgrund deiner Noten besser in einer Mittelschule aufgehoben.
Summa summarum: Ziffernnoten in der Volksschule sind ein Unding, das abgeschafft werden sollte.
Deshalb: Eine gemeinsame Schule löst diese Problematik, denn dann benötigt es schlichtweg keine Ziffernnoten mehr. Stattdessen könnte ein auf den Schüler/auf die Schülerin abgestimmter Förderkatalog eingeführt werden, der sowohl den Eltern als auch Lehrern und Lehrerinnen der Schule, in die das Kind geht, aber auch den Lehrern und Lehrerinnen einer darauffolgenden gemeinsame Schule zeigt, in welchen Bereichen eine spezielle Förderung notwendig ist. Nur über einen solchen lässt sich jedes einzelne Kind individuell, seinen innewohnenden Potentialen gemäß begleiten.
Ziel muss es sein, dass jedem Kind Bildungsgerechtigkeit widerfährt, dass keine zusätzlichen Hürden durch Ziffernnoten aufgebaut werden, dass Menschen erfahren dürfen, wo sie ihre Potentiale am besten einbringen können und Kinder miteinander und voneinander lernen dürfen, ohne sie zu trennen. Das würde auch unserem Staat, unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft besser tun, als dies aktuell ist und in Zukunft der Fall sein wird. Wir brauchen jeden, um den Herausforderungen standhalten zu können und eine bessere Welt zu schaffen.
Schwierig dabei ist, dass dies auch mit gesellschaftlichen und arbeitsmäßigen Veränderungen Hand in Hand gehen sollte: Solange es Niedriglohnarbeiten und ausbeuterische sowie widrige Arbeitsbedingungen gibt und die Anerkennung in der Gesellschaft gegenüber manchen Berufen niedrig ist, wird dieses System weiterhin sein Unwesen treiben.
Leid können einem neben den Kindern auch jene LehrerInnen, vor allem VolksschullehrerInnen tun, die weiterhin Ziffernnoten geben müssen, obwohl sie erkannt haben, wofür sie eigentlich missbraucht werden.
Traurig ist, dass es Beteiligte im Schulwesen gibt, die ohne jemals tiefgründiger darüber nachgedacht zu haben oder um Vorteile zu generieren, reflexartig die Ziffernnoten verteidigen und noch schrecklicher sind jene, die die Ziffernnoten dazu benützen, um ihre Ideologie zu festigen, ihre Macht auszuüben oder ihren Sadismus zu befriedigen.
Markus Astner
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